25 Jahre Initiative Tschernobyl-Kinder in Mülheim
Erlebnisse aus der Anfangszeit
Im Februar 1992 erschien in der Zeitung ein Foto von Dagmar van Emmerich mit ihren beiden Kindern und dem Gastkind aus Belarus. Es war ein „Tschernobyl-Kind“, das sie über die Initiative in Neuss zu einem Erholungsaufenthalt bei sich aufgenommen hatte. In dem Artikel rief sie dazu auf, sich als Gasteltern für ebensolches Kind zu melden, denn sie plante, auch nach Mülheim Kinder aus Belarus zu einem Erholungsaufenthalt im Juni einzuladen.
Es meldeten sich genug Familien, und am 25. Mai 1992 warteten wir im evangelischen Gemeindzentrum in Saarn auf die 44 Kinder aus dem verstrahlten Gebiet. Wir warteten sehr, sehr lange – und das sollte jedes Mal wieder so werden – auf den Bus mit den Kindern. Dabei wurde die Spannung immer größer. Besonders Margarete Ernst lief mit einer Puppe in einem Arm und einem Teddy in dem anderen immer wieder auf und ab, sie wartete auf ein Geschwisterpärchen.
Der Transport im Zentrum von Minsk
Nachdem die Kinder nach 5 schönen Wochen wieder abgereist waren, stand für die Gasteltern fest, dass den Kindern und dem Land weiterhin geholfen werden musste. Und so versammelten wir uns schon Mitte September bei der Spedition Janowski und beluden den zur Verfügung gestellten LKW des THW mit Kleidung und Nahrungsmitteln und großen Kartons à 50,- DM mit Lebensmittel für bedürftige Familien.
Eine Abordnung von zehn Gasteltern mit Dagmar van Emmerich fuhr dann mit dem Zug nach Minsk, um die Waren vor Ort zu verteilen.
Eine Gastmutter, Adelheid Bender, hatte die Idee, Schuhkartons für die Kinder zu Weihnachten zu packen. Wir stellten eine Liste zusammen, was die Kartons beinhalten sollten und verteilten die Prospekte im Bekanntenkreis, an Kirchengemeinden, an Schulen und Kindergärten. Der Erfolg war groß, so dass alle 200 Kinder im Waisenhaus bedacht werden konnten, und wir noch einige übrig hatten, um sie dort an Bedürftige auszuhändigen. Nach drei Monaten schon, Anfang Dezember 1992, versammelten wir uns wieder bei der Spedition Janowski und beluden den LKW des THW mit den Weihnachtspäckchen, Kleidung und wieder mit den großen Kartons à 50,- DM an Nahrungsmitteln für bedürftige Familie.
Als wir mitten in Minsk auf dem Unabhängigkeitplatz ankamen, erblickten wir den LKW des deutschen THW und freuten uns, dass unsere Hilfsgüter schon dort waren Der Schuldirektor aus Zhodino, Michael Michaílowitsch Kaschewski, hatte einen kleinen LKW geschickt, und wir luden die für das Waisenhaus bestimmten Nahrungsmittel und Pakete um.
Aber – oh Schreck, wo sind die vielen Schuhkartons für die Kinder??
Die Menge, die sich noch im LKW befand war nicht einmal ein Drittel, der für die Waisenkinder bestimmten Kartons. Der Schuldirektor schlug vor, diese Pakete an die ersten und zweiten Klassen zu verteilen und dann die restlichen Geschenke zu suchen. Das taten wir dann auch.
Aber die zwei Männer hatten am Ende des Mittagessens aus unserer Sicht viel zu viel Alkohol zu sich genommen. Darum kümmerte sich aber niemand, und alle gingen ihrem weiteren Tagewerk nach.
Am nächsten Tag machten wir uns auf die Suche nach den restlichen Weihnachtspäckchen. Sie sollten vom THW in einem Krankenhaus abgegeben worden sein. Prof. Karandaschew und ich marschierten über eine Stunde zu Fuß durch Minsk zu diesem Krankenhaus, suchten dort eine zuständige Person, und tatsächlich in einem finsteren Keller fanden wir unsere Päckchen. Der Schuldirektor aus Zhodino kam mit einem kleinen LKW, und mit einigen Helfern beförderten wir einzeln in einer langen Kette die Schuhkartons wieder herauf.
Der LKW des THW fuhr auf unsere Bitte am nächsten Tag weiter nach Wulka 2. Dort lieferten Ilse Lemke, und Cläre Kuczera begleitet von ihrem Übersetzer Prof. Nikolai Sobolev die Kartons mit Nahrungsmitteln im Werte von 50,- DM bei bedürftigen Familien und Rentner ab.
In Minsk hatte uns unsere Partnerorganisation in dem ehemaligen Wohnheim der Parteischule der Kommunistischen Partei Weißrusslands untergebracht. Auf einem langen Flur lagen die Doppelzimmer. Dazu gab es eine Gemeinschaftsküche und einen gemeinsamen Aufenthalts- und Speiseraum. Dort trafen wir an einem Abend den Sowjosdirektor Michael Petrowitsch Pridibailo aus dem Dorf Dobrin. Er war dort zu einer Schulung, und er bemerkte: „Ja, die Minsker, die können schnell hier rufen, wenn es etwas zu verteilen gibt. Aber uns, den Betroffenen, hilft niemand, und wir haben es sehr nötig, denn unser Dorf liegt nur 60 km Luftlinie nördlich von Tschernobyl, und bei uns ist der Boden verstrahlt.“ „Aber Michael, wende Dich an unsere Partnerorganisation OTKLIK, und wir werden auch Euch helfen“, entgegneten wir. So kam es. Vom nächsten Jahr an, 1993, erholten sich jedes Jahr Kinder aus Dobrin in Mülheim und das Dorf Dobrin und die Schule werden bis heute von der Initiative unterstützt.
Und im November 1993 fanden wir uns wieder bei der Spedition Janowski ein, um zu packen und zu laden.
Es wurden viele fleißige Hände benötigt. Wir erhielten über 1000 Weihnachtspäckchen. Damit sie nicht in dem großen LKW herumkullerten, mussten sie zu sieben bis zehn in Umzugskartons verpackt werden. Da erschien zum Glück auf der hinteren Rampe der Halle bei der Spedition Janowski die Mathematiklehrerin Frau Kloppenburg vom Gymnasium in Broich mit einer Oberstufenklasse. Das war eine große Hilfe.
Es ging damals alles sehr schnell. Die Menschen in Mülheim, insbesondere die Gasteltern, die ein Kind aufgenommen hatten, waren sehr engagiert. Wir erhielten viele Spenden und wir packten Kleidung, Medikamente, Grundnahrungsmittel, Weihnachtspäckchen usw. Aber war das auch wirklich das, was die Menschen in Belarus brauchten?
Am Flughafen erwarteten uns alle unsere Freunde. Es war wieder eine überaus herzliche Begrüßung und große Freude zusammenzutreffen. Aber dazu gehört natürlich in Belarus auch Essen und Trinken. So hielten die Wagen am Rande der Autostraße an, und aus dem Kofferraum gab es Schnittchen, Tee und Wodka. Nachdem das Wiedersehen so gebührend gefeiert worden war, fuhren Dagmar und ich mit dem Sowjosdirektor Michael Pridibailo und der Deutschlehrerin Soja Konovod nach Dobrin. Die Freunde aus Minsk und Zhodino kehrten heim, sie würden wir später besuchen.
Im Speisesaal der Schule waren die Tische in Hufeisenform angeordnet. Alle Frauen hatten den ganzen Tag gekocht und gebacken, so dass die Tische überquollen mit den besten Leckereien des Landes. Es wurde gegessen, getrunken, gesungen und getanzt. Es war ein riesiges Fest. Noch lange schwärmten die Bewohner Dobrins davon.
Dobryn, wegen der Bodenkontamination ist Spielen nur auf den asphaltierten Flächen erlaubt
Der Sowjosdirektor, Michael Pridibailo, hatte jemanden mit einem Geigerzähler bestellt. Wir gingen um das Schulgebäude herum, und das Gerät schlug immer stärker aus. Dagmar und ich wurden ganz still – es war schrecklich, dieses laute Ticken zu hören und daran zu denken, dass die Kinder hier spielen. Den Schulkindern war es deshalb geboten worden, nur auf den asphaltierten Flächen sich zu bewegen, denn aus der rohen Erde war die Strahlung am stärksten. Wir beschlossen, intensiv Gasteltern zu suchen, damit so viele Kinder wie möglich, zu einem Erholungsaufenthalt nach Mülheim kommen konnten.
Dann fuhr uns Michael Pridibailo mit Soja Konovod als Übersetzerin zu unserem weiteren Partner Wulka 2 im Brester Gebiet. Wir hatten uns zwar angemeldet, aber es erwartete uns niemand. Der Schuldirektor Maxim Stepanowitsch Nagornyj wurde gesucht, und schließlich setzten wir uns in seinem Büro zusammen. Dagmar führte das Gespräch, und ich schrieb das Protokoll. Plötzlich stand der Schuldirektor auf und verlies uns. Ich fragte die anwesenden Lehrerinnen, warum er nun verschwunden sei, und sie antworteten, dass er eine Zigarette rauchen würde. Ich bemerkte daraufhin, dass wir tausende Kilometer zurückgelegt hätten, um hier zu erfahren, wie wir der Schule und den Menschen helfen könnten, und er betrachtet unseren Besuch als so unwichtig, dass er einfach hinausgeht und uns warten lässt. Das haben die Lehrerinnen ihm nach seiner Rückkehr erzählt. Bei dem anschließenden Mittagessen, das er seinen Lehrerinnen kurzfristig befohlen hatte herzurichten, animierte er mich ständig – aber erfolglos – zum Wodka trinken, dem er reichlich zusprach.
Das Wodkatrinken ist in Russland sprichwörtlich. Wir kennen diese Trinkgewohnheiten so nicht und wollten dies auch nicht übernehmen. Im Oktober 1994 flogen 20 interessierte Gasteltern aus Mülheim nach Belarus, um das Land kennenzulernen und zu sehen, wie ihre weißrussischen Kinder lebten. Bei dem großen Abendessen zum Empfang mit den Offiziellen der Stadt Zhodino wurden die entsprechenden Toasts ausgesprochen und nach jedem Toast wurden wir animiert das Glas „bis zu Boden“ zu leeren. Das war für uns überhaupt nicht möglich! Wenn immer wir nur einen kleinen Schluck aus dem Glas tranken, wurden wir aufgefordert, dies doch ganz zu leeren. Was tun? Trinken konnten wir so viel nicht, aber das Glas musste geleert werden. Also gossen wir heimlich den Wodka jedes Mal in den neben dem Teller stehenden kleinen Teller mit Karotten/Selleriesalat.
Die große Gemeinschaft der Gasteltern und Unterstützer der Initiative fand eine Lösung: Gastvater Teschke war städtischer Angestellter. Er suchte seinen Kollegen vom Ausländeramt. Der fuhr in sein Büro und holte den wichtigen Stempel, kam zu uns auf den Parkplatz und versah die Ausreisepapiere mit der benötigten Unterschrift und dem Stempel.
Nun konnten die Busse abfahren.
Die Hilfsbereitschaft in Mülheim und später auch Kettwig war sehr groß. Bis zum Jahre 2000 meldeten sich jedes Jahr mehr Gasteltern, so dass wir über 100 Kinder einladen konnten und drei Busse benötigten. Auch die Spendenbereitschaft war riesig . Dadurch konnten wir viele Jahre zwei Hilfstransporte losschicken.
Diese intensive Zusammenarbeit mit den Menschen in Belarus führte zu vielen Freundschaften.
Hanna Unkelbach
2. April 2017